Der weltbekannte amerikanische Psychoonkologe Lawrence Leshan hat das pathogenetische Denkmuster: ‚Was ist krank (>Diagnose)? > Was ist die Ursache? > Kampf gegen die Krankheit bzw. Ursache.‘ nicht nur klar benannt und kritisiert, sondern auch konsequent salutogenetisch orientiert erneuert. Er ist primär der Frage nachgegangen: ‚Was ist gesund am Patienten?‘. Er hat dann mit diesem gemeinsam geschaut, was dieser und ggf. auch die professionellen HelferInnen tun können, damit es ihm besser geht. In der Folge waren die Therapien bei der Krebserkrankung erheblich erfolgreicher (s. FN 2). Es kam zu einer menschlich partnerschaftlichen Kooperation zwischen Therapeut und Patient, weil sie mit einer gemeinsamen Intentionalität gemeinsam am gleichen Ziel arbeiteten (vgl. Tomasello 2010[1]). Können wir daraus etwas für den Umgang mit Covid-19 lernen?
Wie könnte ein salutogenetisch orientierter Umgang mit einer derartigen Bedrohung aussehen?
Zu Beginn einer derartigen viralen Bedrohungslage ist eine schnelle Aufklärung und Warnung der Menschen vor der möglichen Gefahr sicher angebracht. Also so, wie wir das im Februar/März 2020 im Ansatz erlebt haben, solange man noch nichts Genaueres wusste. Allerdings wäre schon da der Fokus einer salutogenen Gesundheitskommunikation ganz stark auf den vorhandenen Fähigkeiten und der Ermächtigung der Bürgerinnen gerichtet, darauf, was die Menschen selbst tun können, um Ansteckung zu vermeiden und ihr Immunsystem zu stärken. Dazu gehört außer Abstand halten und in Räumen Lüften und in engen Situationen Masken tragen, Bewegung an der frischen Luft. Es ist zum ersten entscheidend, dass Menschen nicht derart mit dem Virus kooperieren, dass sie ihm die Möglichkeit geben, von einem zum nächsten zu kommen. Zum anderen ist das Immunsystem des Menschen wichtig, das das Virus an der Vermehrung im Körper hindert.
In vier Wochen von einer Inzidenz von fast 10.000 auf Null
Dabei ist das Verhalten ganz entscheidend für den Verlauf der Verbreitung des Virus. Freunde berichteten mir von einem Dorf mit etwa 500 Einwohnerinnen im Oktober 2021, von denen ein im Vergleich mit dem Bundesdurchschnitt vermutlich relativ hoher Anteil der unter 65-Jährigen nicht geimpft war. Dort gab es eine Welle mit einer 7-Tage-Inzidenz von fast 10.000 auf das Dorf berechnet. Nach dem Schreck verhielten sich alle kooperativ angemessen vorsichtig, sodass innerhalb von vier Wochen die Inzidenz schon wieder bei null war. Wenn das Virus keinen Überträger und keinen Wirt findet, zerfällt es – ganz ohne Kampf. Nicht mit dem Virus zu kooperieren bedeutet, mit Menschen überwiegend auf Distanz zu kommunizieren. Das ist sicher für einige eine große Herausforderung – besonders für jüngere Menschen. Sie brauchen verständnisvolle Unterstützung dabei. In einsichtsvoller gemeinschaftlicher Kooperation kann diese anscheinend gut gemeistert werden. Menschen sind außer mit einem physischen Immunsystem anscheinend auch mit einem antiinfektiösen sozialen Verhaltensmuster ausgestattet, das durch zutreffende ggf. auch verbale Information aktiviert werden kann – analog wie das physische Immunsystem durch biomolekulare Information aktiviert wird.
Mehrdimensionale Zusammenhänge von gesunder Entwicklung und Krankheitsentstehung
In einer salutogenetisch orientierten Medizin sehen wir eine Erkrankung in einem komplexen Entwicklungszusammenhang des Menschen, in seinen physisch-sozio-kulturell-global-geistigen Beziehungen, in seiner mehrdimensionalen Selbstregulation. Dann erscheint z.B. die Corona-Pandemie vielmehr als eine „Syndemie“, wie R. Horton[2], der Chefherausgeber von Lancet sie nennt, also ein verbreitetes synergistisches Zusammenwirken von pathogenen Faktoren: Viren, genetische Disposition, Vorerkrankungen, Lebensstil, sozial-ökonomische Bedingungen, soziale Verhaltensweisen, politische Maßnahmen und womöglich noch globale Umweltzerstörung führen zusammen zu schweren Erkrankungen. Ebenso und noch mehr entwickeln Menschen sich in diesen mehrdimensionalen Zusammenhängen gesund (s. Ottawa-Charta 1986).
In diesem mehrdimensionalen Verstehen kooperieren wir als Gesundheitsprofis mit den Menschen in ihrem individuellen, sozialen, ökonomischen und kulturellen wie auch global-geistigen Streben nach gesunder Entwicklung. Wir teilen unser Wissen und hören den Menschen zu, was ihnen bedeutsam in Bezug auf Gesundheit und Corona ist. Damit stärken wir ihre Autonomie, wie sie in der Genfer Deklaration 2017 vom Weltärztebund[3] zurecht ganz obenan gestellt wird. Wir gehen auf ihre Ziele, Bedürfnisse und Ressourcen ein, suchen eine gemeinsame Intentionalität, klären die Rollen in der Kooperation und helfen den Partnerinnen, wenn sie ihren Job nicht so machen können, wie geplant[4].
In einer solchen ärztlich therapeutischen Herangehensweise gibt es keinen Krieg gegen Corona[5], sondern eine Kooperation zur gesunden Entwicklung, zum gemeinsamen Lernen im Umgang mit Infektionsgefahren und zur Stärkung und Ermächtigung der Individuen und Gemeinschaften und auch der Nation, Kultur und der ganzen Menschheit. Da kann es auch Impfungen geben, wenn der Nutzen und das Risiko gut abgewogen sind. Da gibt es leider auch hier und da Schmerz und Leid durch die Erkrankungen aber keine bzw. wenig selbst verursachte Kollateralschäden. Aus leidvollen Erfahrungen können wir lernen. Das bedeutet in manchen Situationen auch, dass es besser sein kann, in Demut die Grenzen der eigenen Macht anzunehmen als in einer kriegerischen Engstellung des Bewusstseins mit Zwangsmaßnahmen seine Stärke zu demonstrieren und neues Leid zu schaffen[6]. Dieses Denken und Handeln folgt dem bekannten Kommunikationsmuster ‚Macht-Opfer-Dreieck‘[7]. Kooperationen in diesem Muster geben Leid weiter, anstatt es aufzulösen.
Zum Lösen braucht es Menschlichkeit, menschliche, positive Kohärenz- und Annäherungsziele und Strategien. Die Lösungen verschiedene Probleme und Krisen finden wir auf dem Wege der Annäherung an Stimmigkeit, Ganzheit und Autonomie in mitmenschlicher Verbundenheit. Die Annäherungswege können wir in kokreativer Kommunikation und Kooperation gehen.
[1] Tomasello M (2010), Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp.
[2] Horton, Richard: COVID-19 is not a pandemic. richard.horton@lancet.com www.thelancet.com Vol 396 September 26, 2020; S. 874 (R. Horton ist Herausgeber (editor-in-chief) von Lancet)
[3] Vgl. a. Ottawa-Charta der WHO von 1986 und Genfer Deklaration des Weltärztebundes 2018;
[4] S. Kriterien menschlicher Kooperation bei: Tomasello M, Hamann K (2012), Kooperation bei Kleinkindern. https://www.mpg.de/4658054/Kooperation_bei_Kleinkindern. (Abruf 10.02.2016).
s.a. Petzold TD (2021a) Drei entscheidende Fragen – Salutogene Kommunikation zur gesunden Entwicklung. Und (2021b) Schöpferisch kommunizieren – Aufbruch in eine neue Dimension des Denkens. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung.
[5] S.a. Petzold TD: https://gesunde-entwicklung.com/globale-ethik-zur-kooperation/
[6] S.a. Blogs: https://salutogenese-corona.blog/ und www.globale-ethik-blog.net
[7] S. Petzold TD (2021a) Drei entscheidende Fragen …