Der Fokus auf Beziehungen
Eine zukunftstaugliche Ethik fokussiert die Beziehungen, das Zusammenwirken der Menschen mit ihren In-, Mit- und Umwelten. Dadurch rücken die Systeme und das jeweils Gemeinsame und die Beiträge, die jeder dazu erbringt, stärker in den Fokus des Bewusstseins als individuelle Tugenden und andere persönliche Eigenschaften. Letztere entstehen und wachsen in den unterschiedlichen und mehrdimensionalen systemischen Beziehungen.
Für Beziehungen gibt es viele Begriffe, wie z.B. Bindung, Liebe, Partnerschaft, Team u.a.m. Allerdings bleibt selbst im professionellen psychotherapeutischen Zusammenhang „Beziehung“ oder „Bindung“ recht unklar und wird lediglich kurzfristigen „Interaktionen“ gegenübergestellt. Dabei werden der Therapeut-Patient-Beziehung heilsame Wirkungen zugeschrieben wie auch der Mutter-Kind-Bindung ein positiver Einfluss auf das Gedeihen des Kindes. Wenn genauer gefragt wird, was an der Beziehung das Heilsame sei, ist die Antwort häufig „Liebe“. Damit wird eine Gestaltung der Beziehung sehr schwierig, weil jeder in das Wort „Liebe“ seine unterschiedlichen Gefühle, Bedürfnisse und Sehnsüchte legt, die von seiner Familie und Kultur mitgeprägt sind.
Menschlich kooperieren
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das Zusammenwirken und -arbeiten richten, werden Beziehungen leichter zu gestalten. Dabei können wir Kooperation auch als tätige Liebe verstehen. Seit den Erkenntnissen der Neurowissenschaften (vgl. J. Bauer „Prinzip Menschlichkeit“) und den Grundlagenforschungen von Michael Tomasello („Warum wir kooperieren“) wissen wir, dass wir Menschen ein grundlegendes Bedürfnis nach menschlich partnerschaftlicher Kooperation haben und die dazu angeborene Fähigkeit. Tomasello und seine Forschergruppe haben folgende Qualitäten von Kooperation bei Kleinkindern beobachtet:
- KooperationspartnerInnen gehen gegenseitig aufeinander ein. Dabei lernt jeder seine Anliegen zu kommunizieren sowie auch den anderen zu verstehen.
- Die Kooperation entsteht durch eine gemeinsam geteilte Intentionalität, eine gemeinsame Ausrichtung auf ein attraktives Ziel (‚Attraktor‘).
- Die BeziehungspartnerInnen stimmen ihre unterschiedlichen Rollen (Aufgaben) miteinander ab. Idealerweise beruht die Rollenverteilung auf maximaler Freiwilligkeit.
- Wenn einer der KooperationspartnerInnen ihre/seine Aufgabe nicht hinreichend erfüllen kann, hilft der andere ihm dabei nach Kräften.
Diese vier Aspekte menschlicher Kooperation dienen uns als wegweisende Kriterien zur Gestaltung aufbauender Kooperation.
Kooperation gründet auf gemeinsamer Intentionalität
Ob wir das innere Team unserer Ich-Zustände betrachten, unsere familiären Beziehungen, die Kooperationen im Beruf oder der Volksvertreter international, immer gelten die vier Grundsätze, die Tomasello nennt, wenn Kooperation gelingen soll. Allerdings gestaltet sich ihre Ausführung in einer senkrechten Kooperation etwas anders als in einer partnerschaftlichen horizontalen. In der vertikalen zwischen holarchisch verknüpften Systemen (wobei das größere Ganze=Holon dem kleineren übergeordnet ist) wird z.B. das Ziel weitgehend von dem größeren Übersystem bestimmt. Die einzelnen Untersysteme können mitbestimmen. Der Zusammenhalt, die Kohärenz des Übersystems entsteht dadurch, dass alle in eine ähnliche Richtung wirken – implizit durch ihr Dasein und/oder explizit durch gewollt bewusste Arbeit. Letztlich „sitzen alle in einem Boot“, haben alle das gleiche Ziel: Das Wohl aller Menschen in der Biosphäre – auch wenn sie sich aufgrund negativer Erfahrungen scheinbar anders verhalten. Spätestens dann gilt es, differenziert auf ihre Bedürfnisse einzugehen und ihnen wieder integrierend den Weg ins ‚Boot‘ der Kooperation zum Wohle Aller zu ermöglichen.
Unsere konkreten Bedürfnisse und Anliegen sind in den Lebensdimensionen unterschiedlich, so haben wir z.B. in privaten Beziehungen andere Wünsche als in öffentlichen bzw. in globalen. Das führt zu unterschiedlichen Kooperationen und auch zu Widersprüchen, die Gegenstand von Verhandlungen werden.
Das alle Systeme Verbindende ist das Wohl Aller, weil Alle im System miteinander in Beziehung sind. Damit entspricht das ethische Gebot zur Kooperation zum Wohle Aller einer systemischen Wirklichkeit. Was dieses Gebot konkret bedeutet, ist für jeden einzelnen in jeder Rolle, in jeder Kultur und in jeder Lebensdimension unterschiedlich. Wir müssen bei jedem Handeln das Wohl eines kleinen Selbst und das Wohl aller anderen und des großen Ganzen abwägen. Dieses verantwortungsbewusste Abwägen ist eine große ethische Herausforderung für jeden einzelnen Menschen und für jede Führungsriege bis hin zur UNO. In gewissem Maße können wir als Individuen dabei auf unsere gesunde implizite Selbstregulation vertrauen, die von Natur aus kooperativ im Dienste für das große Ganze und das eigene (Über-)Leben ist. Wenn es um Organisationen, Nationen und die Menschheit geht, brauchen wir zunehmend unseren Verstand und unser reflexives Verantwortungsbewusstsein.
Kohärenz, Ethik und Kooperation
Dieses reflexive Bewusstsein entwickeln wir, wenn wir unserer integrierenden Kohärenzmotivation folgen. Diese ist der durch Dopamin gesteuerten hedonistischen „Wollens“-Motivation sowie der durch Angst (Stress) gesteuerten Abwendungs-/ Vermeidungsmotivation übergeordnet. Im neuropsychischen Kohärenzmodus können wir im Dienste eines höheren Sinnes auf Genuss verzichten bzw. einer Bedrohung mit Gelassenheit begegnen.
Mit Hilfe dieses übergeordneten Motivationssystems sind wir in Resonanz mit der Kohärenz unserer Übersysteme wie unserer Familie, Kultur, der Menschheit und Natur. Wir können mitfühlend mitdenken und freiere sowie verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen. Unser reflexives Bewusstsein entwickelt sich als Mitwissen (vgl. lat. ‚conscientia‘) von Übersystemen und in Resonanz zu deren Kohärenz.
Aus systemischer Sicht entspringt unsere Kommunikation und Kooperation letztlich der Kohärenz dieser Übersysteme, denen wir unser Dasein verdanken. So sind wir in Resonanz mit dem größeren Ganzen motiviert, unsere kleinere Welt in Stimmigkeit zu gestalten. Die alles Leben verbindende Ethik zum Wohle Aller durch Kooperation geht dabei von einer grundlegenden Freiheit zur Verantwortung des Menschen aus, die unterschiedliche Entscheidungen in unterschiedlichen Rollen der Kooperation ermöglicht und fordert: Global visualisieren – lokal kooperieren.
Von Theodor Dierk Petzold am 26.12.18