Kreative Kooperation ganz zufällig?

Vor neun Jahren haben mein Kollege und ich in der Bahn eine ungeplante Unterhaltung gehabt. Auf der Rückreise von einer Tagung der APAM (Akademie für patientenzentrierte Medizin) bei Bremen, für die wir zufällig denselben Zug gebucht hatten, begann ich, Fragen nach der Zukunft des Vereins zu stellen, weil das Ergebnis der gerade erlebten Veranstaltung sehr frustrierend war. Aus meiner Perspektive musste sich etwas Grundlegendes ändern, damit der Verein attraktiv werden kann und auch das Engagement dafür wieder Freude macht. Mein Kollege stimmte mir zu, und wir überlegten, was der explizite und attraktive Fokus des Vereins sein könnte und sollte. Eine Idee folgte auf die nächste. Irgendwann meinte er: „Salutogenese“. Das traf genau meine Intentionalität und fand sofort eine offene Tür. Wir besprachen noch weitere Einzelheiten. Das war die „Zeugung“ des Dachverbands Salutogenese DachS (ausnahmsweise mal ohne Frau, nur unter Männern). Die „Geburt“ war etwa neun Monate später – dann mit einer größeren Gruppe und überwiegend Frauen.

 

Ähnliche Erfahrungen von kreativen Dialogen und Kooperationen habe ich viele gemacht (auch mit Frauen) und vermutlich viele andere Menschen auch. Die Begebenheiten sind häufig eine Mischung aus scheinbar Zufälligem und Organisiertem. Statt „Zufälligem“ möchte ich lieber aus subjektiver Sicht „Gelassenem“ sagen, weil wir die nicht geplante Begebenheit haben kommen lassen und uns auf diese eingelassen haben. Da erübrigt sich die philosophische oder mathematische Frage nach der Zufälligkeit.

Der Kollege und ich waren geplant auf dem Symposium bei Bremen; wir waren als Vorsitzende der APAM Veranstalter. Insofern hatten wir eine ähnliche Zielrichtung / Intentionalität im Kopf. Nicht geplant war die Frustration der Tagung und die gemeinsame Rückreise. Wir hatten also keinen Plan oder Verabredung für unser Gespräch. Beides hatte aber sicher eine große Bedeutung für unsere Kokreation: der erlebte Frust für die innere Dynamik und die Bahnfahrt für den äußeren Raum.

Reflexion von Kokreativität

Aus ähnlichen kokreativen Erfahrungen, die in Zwischenräumen von intentional Organisiertem und Gelassenem stattfinden, wurden verschiedene Kommunikationsstrukturen für Gruppen und Kongresse entwickelt, wie das ‚Open Space OS‘, ‚World Café‘, ‚Bar-Camp‘ und die ‚Schöpferische Gruppe‘ (Petzold 2010, 2013).

Wenn es beim OS heißt, dass keine Themen für die Arbeitsgruppen vorgegeben werden, ist das nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist, dass das OS bzw. die jeweilige andere Methode stattfindet auf einer Tagung mit einem Thema und es selbst auch eingeleitet wird zu einem Thema. Zu diesem sind die Teilnehmer*innen auch zur Tagung gekommen. Es ist also eine geteilte gemeinsame Intentionalität zur Kooperation (vgl. Tomasello 2010 und ersten Post) vorhanden. Für die dann sich bildenden Arbeitsgruppen ist das jeweilige Thema, das auf dem „Marktplatz“ genannt wurde, die leitende Intentionalität für ihre Kommunikation und Kooperation. Sogar beim BarCamp sind ursprünglich Themen/Fragen für das Treffen als Intention für die Teilnahme vorher gegeben – allerdings nicht ein konkretes Ziel.

Die Kokreativität einer Gruppe entsteht oft geradezu in den Zwischenräumen von Gesprächen, wenn man der Intuition, dem noch Unbestimmten, Raum und Zeit gibt, die Antennen in sich zu stimulieren.

Am Beispiel des OS können wir dabei schon eine hierarchische Ordnung der Intentionalität erkennen: das Thema der Tagung, z.B. „Vertrauen und gesunde Entwicklung“ ist ein übergeordneter Attraktor für die Teilnehmenden, die am ‚Marktplatz‘ Themen für die Arbeitsgruppen vorschlagen, z.B. „Wie kann ein Opfer von Gewalt wieder Vertrauen in Menschen finden?“, oder: „Wie können Schüler Lehrern vertrauen?“ u.a.m. Diese Themen finden jeweils Resonanz bei Teilnehmenden. Ihre individuelle Motivation ist dann eine geteilte Intentionalität in Bezug auf das AG-Thema, das wiederum ein Teilaspekt des Tagungsthemas ist. Und wenn wir in noch größere Zusammenhänge schauen, können wir das Thema der Tagung „Vertrauen und gesunde Entwicklung“ als einen impliziten Teilaspekt der übergeordneten Intentionalität der Menschheit zum „guten Leben“ erkennen (s.a. ersten Post in diesem Blog).

Dann dient unsere individuelle Kooperation in der AG letztlich dem Ziel der Menschheit in der Biosphäre.

Theoretischer Hintergrund

Beobachtungen und eigene Erfahrungen in zahlreichen Gruppenkommunikationen und anderen kreativen Kooperationen wie Projektbildungen haben dazu geführt, diese Prozesse mit Begriffen aus der Chaosforschung zu beschreiben, da diese m. E. der Wirklichkeit am nächsten kommen:

Kreativität von Menschen und Gruppen ist ein (iterativer) Rückkopplungsprozess zur Annäherung an ein implizites Ziel, an einen komplexen Attraktor (Petzold 2017).

(‚Attraktor‘ ist ein möglicher (ggf. vorübergehender) Zustand eines dynamischen Systems, dem sich das System in rückgekoppelten Schritten (‚iterativ‘) annähert.)

Zunächst als zufällig erlebte Kooperationen erscheinen in dieser Sichtweise als intendiert und geleitet durch einen übergeordneten Attraktor.

Literaturempfehlungen

Petzold TD (2010a): Kreativer Flow in der Teamarbeit – Salutogene Kommunikation in der ‚genialen‘ Gruppe. In: Petzold TD (Hrsg.) (2010): Lust und Leistung … und Salutogenese. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung; S.121-128.

Petzold TD (2013): Kreative Gruppenprozesse für gesunde Entwicklung – auch gesellschaftlich. In: Petzold & Bahrs (Hrsg. 2013): Chronisch krank und doch gesund. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung; S. 396-407.

Petzold TD (2017): Schöpferische Kommunikation. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung.

Tomasello M (2010) Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp.

Von Theodor Dierk Petzold am 10.3.19

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