Eine starke UNO muss für die weltweite Abrüstung sorgen
Theodor Dierk Petzold[1]
Der Putin-Krieg gegen die Ukraine wirft eine alte Frage wieder auf und drängt zu einer neuen Lösung: Gilt das Abschreckungsprinzip (im Abwendungsmodus[2]) „Krieg dem (imperialistischen) Krieg!“ oder gilt die pazifistische Ansicht, dass alle abrüsten müssen, um zum Frieden zu kommen? Und dass die Mutigen direkt mit der Abrüstung beginnen? Hier wollen wir sowohl das Potential, die Anliegen und Denkweisen der Menschen in Betracht ziehen als auch die politischen Realitäten.
Eins lehrt uns wieder einmal dieser aktuelle Krieg in Europa: Auch ehemalige bzw. jetzt bestehende Demokratien sind keine langfristige Garantie für Frieden. In genügend Beispielen haben wir erfahren, dass Demokratien nicht den Frieden sichern (s. USA) und außerdem schnell zu autoritär geführten Staaten werden können (Türkei. Russland, Ungarn), die Kriege führen, wenn sie die Möglichkeit dazu sehen. Dazu zählen auch die Beispiele wie der Irak-Krieg der USA, der Sturz der Regierung in Libyen, der Afghanistan-Krieg u.a.m. Es ist weder ein neues Phänomen von Seiten Russlands noch von Putin. Es ist internationale Praxis: Die jeweils Stärkeren (oder die sich dafür halten) führen Kriege, wenn sie glauben, davon profitieren zu können. Das scheint mehr eine Folge der Machtsysteme und Denkmuster zu sein als ein Ausdruck persönlicher Charaktere.
In Putins Krieg in der Ukraine kämpfen noch zum Teil Menschen gegen Menschen. Selenskyj hat das ziemlich zu Beginn treffend gesagt: „Wir werden Euch unsere Gesichter zeigen und kämpfen.“ Anscheinend hat er darauf gesetzt, dass das russische Brudervolk aufhören wird zu schießen, wenn es den Brüdern ins Gesicht schaut. Wie werden solche Kriege erst laufen, wenn sie fast nur von Drohnen und Kampfrobotern geführt werden, die aus einem Atombunker heraus per Mausklick gestartet werden, wie es heute Millionen Kinder und Erwachsene täglich zuhause in Computerspielen üben? Sie sehen keinen Menschen mehr leiden. Ein junger amerikanischer Bomberpilot berichtete aus einem Einsatz im Irak 2003, dass es „wie ein spannendes Baseball-Spiel gewesen sei“.
Wenn dann plötzlich ein Präsident einer entsprechend gerüsteten Nation meint, dass sein Volk in der Umweltkrise nur überleben kann, wenn es drei Milliarden Menschen weniger auf der Erde gibt, kann er diese per Mausklick auslöschen – im besten Willen zur Rettung seines Volkes und sogar der Biosphäre. Dabei kann er sogar noch für die vielen Seelen der getöteten Menschen und deren Angehörige beten und beim lieben Gott um Verzeihung für seine Notlösung bitten. Ein Krieg mit Viren (wie er heute schon möglich ist) könnte da besonders geeignet sein, weil er weniger Kollateralschäden anrichtet als z.B. Atomwaffen und nicht die Erde unbewohnbar macht. Nationalisten könnten meinen, dass sie die eigene Bevölkerung vorweg impfen würden.
Wenn wir Frieden wollen, müssen wir abrüsten.
Ein politischer Friedensprozess ist global denkbar, ganz analog wie es in vielen Staaten ein Gewaltmonopol für den Staat und ein Waffenverbot für Einzelne gibt. So können wir heute ein Gewaltmonopol für die UNO fordern und dieses etablieren. Mit einer internationalen Gerichtsbarkeit und Exekutive. Es ist sicher kein Zufall, dass die drei Großmächte USA, Russland und China bislang den internationalen Gerichtshof (noch?) nicht anerkannt haben. Wollen sie sich über andere Länder stellen und die Möglichkeit zum Unrecht des Stärkeren zur Ausbeutung und Unterdrückung von Schwächeren in Peto haben? – Wie Putin meinte, sie über die Ukraine zu haben?
Exkurs: Macht-Opfer-Muster
Kulturhistorisch gesehen ist heute ein analoger Prozess in der globalen Lebensdimension erforderlich oder schon im Gange, wie er in der Kultivierung von Gesellschaften in den letzten ca. 12.000 Jahren stattgefunden hat, um einen möglichst friedlichen und aufbauend kooperativen Umgang mit den Verletzungen durch physisch Stärkere zu schaffen. Mit der alttestamentlichen Anweisung zur Gerechtigkeit „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ sollte die Rache und Vergeltung begrenzt werden. Um die Eskalation von Racheakten im dichter werdenden Zusammenleben auch von mehreren Stämmen zu unterbinden, wurde die Gerichtsbarkeit eingeführt und mit Macht ausgestattet. Im internationalen Miteinander verüben die physisch Mächtigeren heute immer noch Vergeltungsschläge, die weit über die erlittene Verletzung hinausgehen (man denke z.B. an die USA und die Taliban, Israel und Palästina, Türkei und Kurden…).
Der Mensch neigte und neigt offensichtlich immer noch zu sehr zu einem verletzenden Re- und Interaktionsmuster, wenn er die Macht dazu hat: zum Macht-Opfer-Dreiecksmuster.
Das Macht-Opfer-Dreieck ist ein Interaktions– und Denkmuster zwischen den Rollen von Opfer, Täter und Retter/Richter[3]. Dabei erlebt das Opfer den Täter als mächtig und schaltet in den motivationalen Abwendungsmodus. Um Verletzungen durch den Täter abzuwehren, muss der Mensch Macht entfalten, was oft durch Parteinahme von anderen (zur Vergeltung, Strafe und Abschreckung) geschieht (auch durch Verwandtschaft: Blutrache). In Kulturen sind deshalb die Rollen von Richterinnen[4] und Retterinnen mit Macht ausgestattet, um wechselseitige Racheakte und Selbstjustiz zu unterbinden. Die Rollen Retter und Richter dienen eigentlich der Fürsorge bzw. Vorbeugung von zwischenmenschlichen Verletzungen. Allerdings werden auch dabei immer wieder Menschen verletzt und somit zu neuen Opfern gemacht. Wenn sich diese Rollen und das Muster im Denken in einer eigenen Macht-Opfer-Dreieckslogik verselbständigen, entfalten sich Macht- und Rollenspiele, in denen die Rollen fliegend wechseln können (vgl. auch Dramadreieck von S. Karpman 1965). Begriffe wie Schuld, Ursache, böse, Strafe, Vergeltung, Retten und ihre Verknüpfungen in Vorwürfen, Anschuldigungen und Urteilen entspringen diesem Muster und triggern es. Das Macht-Opfer-Dreieck kann dann als Schattenmuster eine Eigendynamik entfalten, wo Richter und Retter mehr Schaden als Nutzen anrichten können.
Die UNO erneuern und stärken
In der Bildung der Kulturen wurde das Prinzip des Stärkeren und der folgenden Rache ersetzt durch ein Recht, das für alle gelten soll und von Vertreterinnen der Gesellschaft ausgeführt wird „im Namen des Volkes“. Dies galt und gilt dem Schutz von Opfern und der kulturellen Kooperation, zu der alle ihren Beitrag liefern.
International gibt es ein ähnliches Bemühen wie in den Kulturen auch – ganz besonders nach dem 2. Weltkrieg durch die UNO, das Völkerrecht und den internationalen Gerichtshof. Und gerade jetzt im Verlaufe von Putins Krieg kommt von dem Opfer, der Ukraine, die Anrufung der UNO und eine Verurteilung des Angriffes mit beeindruckender Mehrheit. Genau in diesem Sinne muss die Völkergemeinschaft aktiviert und gestärkt werden – natürlich möglichst unabhängig von den Großmächten. Als demokratisches Machtinstrument der vielen Nationen.
Durch den Angriff Russlands auf die Ukraine sind jetzt viele Menschen für diese Fragen sensibilisiert. Die Staaten, die sich weigern, die internationale Gerichtsbarkeit anzuerkennen, dürfen nicht in den Sicherheitsrat kommen. Diese Regelungen müssen zu Friedenszeiten erfolgen, wenn ein anderes Denken als das im Macht-Opfer-Muster leichter möglich ist.
Wie können wir mehr Frieden erreichen?
Einem Gewalttäter auch die „andere Wange“ hinzuhalten, kann in manchen Situationen hilfreich sein. Aber bei einem Amokläufer mit einem Maschinengewehr oder digital gesteuerten Tötungsmaschinen hilft das nicht. Diese müssen gestoppt werden – möglichst bevor sie loslegen. Die bedrohten Menschen müssen geschützt werden. Ganz aktuell ist deshalb die starke internationale Hilfe für die Ukraine richtig. Aber ist es nicht naiv, deshalb den Westen als Friedensbringer darzustellen und als Konsequenz im Macht-Opfer-Muster zu glauben, dass eine vermehrte Aufrüstung des Westens zu mehr Frieden führt? Allein die USA geben jährlich 12 mal so viel Geld für Rüstung aus wie Russland und 3 mal so viel wie Russland und China zusammen. Womöglich steckt eine ähnlich brutale Hoffnung hinter dieser Aufrüstung wie sie Putin hatte: Eine starke militärische Überlegenheit wird den Gegner so abschrecken, dass er alle (wirtschaftlichen u.a.) Bedingungen erfüllt? Das ist ein Denken noch im barbarischen verletzenden Prinzip des Stärkeren, das wir glaubten in den Kulturen durch das Einführen einer Rechtsprechung gelöst zu haben. Es ist die simple Logik, die dem militärischen Denken und dem der Geheimdienste zugrunde liegt – das illusorische Narrativ, dass Waffen auf Dauer Sicherheit bringen. Heute braucht es ein anderes Denken. Ein Denken in Kooperationen zum guten Leben in Frieden unter Anerkennung und Wahrung der Menschenrechte. Der Widerstand in der Ukraine und das Nachdenken weltweit lassen hoffen.
Es braucht allerdings bis zu dem idealen Zustand ohne vernichtende Waffen weltweit eine von der UNO kontrollierte Abrüstung. Die Staaten, die bis jetzt schon die internationale Gerichtsbarkeit anerkennen, sollen und können sich zusammenschließen zur Koalition der Friedenswilligen zur globalen Abrüstung. Ihre militärische Rüstung können sie zunächst der UNO zur Verfügung stellen, damit diese eine Exekutive aufbauen kann, die auch der Willkür der Großmächte Einhalt bieten kann. Wer in den UN-Sicherheitstrat will, muss den internationalen Gerichtshof anerkennen und das Völkerrecht befolgen. Wenn eine Nation dies verletzt, wird sie aus dem Rat ausgeschlossen, wie es von Kiew jetzt sehr gut gefordert wird. Das betrifft allerdings außer Russland auf jeden Fall auch noch die USA in Bezug auf den Irak-Krieg u.a. Die UNO muss für diese Friedensaufgabe gestärkt und wohl neu organisiert werden. Das könnten und sollten Grundlagen einer werteorientierten und friedvollen Außenpolitik sein.
Die Rüstungspläne – auch hier in der BRD – müssen breit diskutiert werden. Ihre aktuelle Abschreckungswirkung scheint gegen Russland motiviert und gerichtet. Da kann sie nur symbolisch sein, weil der Krieg schon stattfindet. Dabei habe ich Scholz so verstanden, dass er diese Aufrüstung zum Ziele einer militärischen Stärkung Europas plant. Das ist nicht nur gegen Russland gerichtet, sondern langfristig mindestens ebenso gegen die USA und China, zum Unabhängig-werden von der Welthegemoniemacht. Europa würde dann auch zu einem militärischen global Player werden.
Vollständige Abrüstung aller Staaten!
Strategisch dürfte ein Aufrüsten nur unter der Bedingung stattfinden, dass alle Nationen unter der Kontrolle der UNO abrüsten. Das bedeutet, dass kommende Militärausgaben den UNO untergeordnet werden müssen: einzig als Mittel zum Zwecke der weltweiten Abrüstung. Wenn das nicht intendiert und vertraglich geregelt ist, treibt es mehr den Rüstungswettlauf an, der mit großer Wahrscheinlichkeit in einen oder mehrere große Kriege führt. Wenn man die ökonomische Profit-Triebkraft hinter der Rüstungsindustrie sieht, dürfte man eher skeptisch sein, dass taktische Aufrüstung wirklich hilfreich für eine strategische Abrüstung sein kann.
Bei der modernen Rüstung, wo die kriegführende Partei per Mausklick Bomben schmeißen lässt und die leidenden Menschen nicht mehr sieht (wie es in der Ukraine ja immerhin noch häufig der Fall ist und den Russen zum Verhängnis werden kann), wird es ein Wettlauf um die bessere Technik, das perfektere Töten gehen. Dann bräuchte Putin keinen Sicherheitsstab oder Generalsstab mehr, dann könnte er alleine aus einem Bunker heraus die ganze Welt zerstören. Die Waffensysteme dazu gibt es im Prinzip schon.
So kann es perspektivisch nur eine klare Devise geben: vollständige Abrüstung aller Staaten. Nur die UNO darf Militär haben, das dann im Zuge der allgemeinen Abrüstung auch abgerüstet wird, bis hin zu einer Exekutive wie Polizei, die – metaphorisch – mit Schlagstöcken und Pfefferspray ausgerüstet ist. Womöglich noch wichtiger sind dann Armeen von Streitschlichterinnen und Friedensstifterinnen, zu denen jeder Mensch auch in seinem Alltag gehören kann. Alle, die für ein gutes Leben möglichst aller Menschen in der Biosphäre kooperieren, geben dem Frieden einen großen Sinn.
Frieden stiften in allen Lebensdimensionen
Auf dem Weg zu dieser großen weltpolitischen Aufgabe braucht es sehr viele Menschen, die innerlich klar friedlich ausgerichtet sind und nicht mehr unreflektiert in die Macht-Opfer-Logik verfallen. Jede und jeder Einzelne kann viel für die globale Kooperation in Frieden tun. Es braucht ein möglichst sehendes, mit der Realität abgeglichenes, Vertrauen in das Gute im Menschen. Wem willst und kannst du in der Zukunft wirklich vertrauen, wenn es um Frieden geht? Auch braucht es Selbstvertrauen und mutige Aktivitäten in allen Lebensdimensionen:
Sich selbst immer wieder friedlich einzustimmen in große Verbundenheit mit allen Menschen und der Biosphäre. Seine Bedürfnisse, Anliegen und Gedanken und friedliche Anliegen und Meinungen zu kommunizieren; dabei soll das Macht-Opfer-Muster von Opfer-schuldiger Täter-Richter/Retter reflektiert werden und eine kleine Warnlampe aufleuchten lassen, um wieder in friedenstiftende Gedanken (im Kohärenzmodus s. Fußnote 2) zu finden. Immer wieder ist es gut, sich und anderen die Frage nach einem Sinn zu stellen.
In der Bildung und dem Gemeinschaftsleben friedliche Einstellungen kultivieren, Konflikte nicht verdrängen, sondern gemeinsam lösen – gemeinsam aus der Vergangenheit lernen.
Auf aggressive Impulse anderer möglichst gelassen und mit Selbstvertrauen und Frieden stiftend reagieren. Gemeinsame Aktionen für andauernden Frieden durchführen. Freundlich auf alle Menschen zugehen: das bedeutet das Menschliche in ihnen ansprechen, das es (meist) jenseits ihrer kulturellen Machtrolle gibt – auf ihre Bedürfnisse, Wünsche und Anliegen eingehen und nach Sinn fragen. Derartige Einstellungen und Verhaltensweisen können geübt werden – am besten in allen Schulen als fester Bestandteil einer Sozialisation zum aktiven Frieden.
In der Politik bedeutet es, die globale Einheit der Menschheit in und mit der Biosphäre im Blick zu haben, die Verbundenheit aller und den Wunsch nach aufbauender Kooperation aller Menschen in und mit der Natur zum Wohle Aller. Das können wir u.a. durch Meditation, Gebete und Kunst fördern. Politisch heißt es, die Forderung nach einer starken UNO, die die weltweite Abrüstung kontrolliert, zu vertreten. Dazu muss die UNO noch neu und demokratischer umgebaut werden. Der Anfang dazu ist schon da.
[1] Dieser Aufsatz wurde in einem kokreativen Prozess mit Anna Klüpfel und Sandra Kunz erstellt.
[2] Der Abwendungsmodus ist neben dem Annäherungs- und Kohärenzmodus eine von drei motivationalen Einstellungen, Sie wird eingeschaltet, wenn Menschen eine Bedrohung wahrnehmen, und führt zu Reaktionen wie kämpfen, fliehen oder totstellen, zum Stressmodus.
[3] S.a. www.globale-ethik-blog.net und Petzold TD (2021): „Drei entscheidende Fragen – Salutogene Kommunikation zur gesunden Entwicklung“ Kap.4.
[4] Um den Geschlechtern in der Sprache halbwegs gerecht zu werden, ohne den Schreib- und Lesefluss zu sehr zu verkomplizieren, verwende ich im Weiteren im Singular entsprechend der bislang üblichen Schreibweise die männliche Form, es sei denn, es handelt sich explizit um eine Frau, und im Plural immer die weibliche Form, es sei denn, es handelt sich ausschließlich um Männer.